Oma

Ich weiss nicht wer sie war.

Irgendwo aus Polen stammte sie. Im Krieg war sie auf der Flucht. Sie erzählte mir ein einziges Mal in meinem und ihrem Leben davon. Wie sie sich mit Tanten und der eigenen Mutter in vielen verschiedenen Ortschaften versteckte. Jahrelang wechselten sie den Standort und waren auf Menschen angewiesen die sie bei sich aufnahmen. Gegen etwas Brot und eine kleine Kammer arbeiteten sie auf großen Bauernhöfen.

Etwas später muss die Halbschwester meines Papas geboren worden sein. Der Krieg nur wenige Jahre vorbei. Und 1958 kam mein Papa zur Welt. Soweit mir bekannt, als Jüngster von ingesamt sechs Kindern. Mein Opa war Deutscher, hatte in der Familie ganz klar die Hosen an. Ich glaube sie selbst hatte nie einen anderen Job als sich um seine Wünsche und um die Kinder zu kümmern.

Im Jahr meiner Geburt verstarb mein Opa. So lernte ich ihn nie kennen. Sie wohnte mit in unserem Haus. Bis zum Schluss. Ich überlege schon die gesamte Nacht wie ich sie in Erinnerung habe. Als junges Mädchen verbrachte ich oft Zeit in ihrer Stube. Dort hatte ich eine kleine Kiste mit Knete. Ich liebte es die Knete auszurollen um dann Bilder in diese zu schnitzen. Manchmal lag ein solches Bild dann tagelang in ihrer Stube, nur weil ich nicht den Mut hatte es zu zerstören. Ich erinnere mich an die kleinen Miniatur-Gartenwerkzeuge auf ihrer Fensterbank. Damit gärtnerte ich mit Hilfe meiner Fantasie durch die Luft im Raum. Wochenlang, immer wieder. Ich erinnere mich an „Mensch ärgere dich nicht“-Spiele mit ihr. Sie bezichtigte mich des Schummelns. Im Nachhinein weiss ich nicht ob sie scherzte oder nicht. Ich schummelte nie. Und ich erinnere mich an Peggy. Unsere damalige Hundemitbewohnerin. Sie lebte ihre letzten Jahre bei ihr, damit sie nicht so alleine in ihrer Stube war. Als Peggy nicht mehr da war, wurde es zuerst ganz schwierig.

Ich erinnere mich an meine Pubertät. Meine Cousinen und ich trafen uns fast jeden Tag bei meiner Oma. Oftmals schliefen wir sogar mit in ihrem großen Ehebett, was locker für mehrere Personen genügte. Es war jedesmal ein bisschen wie Urlaub. Abenteuer. Und das obwohl ich nur wenige Meter von meinem Kinderzimmer entfernt schlief.

Ich erinnere mich aber auch an die vielen schlechten Dinge die sie zu einer einsamen Frau machten.

An die Intrigen die sie in unserer Familie streute. Wie leicht sie sich manchmal von anderen Verwandten manipulieren ließ… und wie wie ich sie letztendlich nicht mehr besuchen ging. Mit achtzehn zog ich aus. Schon zuvor ging ich ihr meistens aus dem Weg, aber ab diesem Zeitpunkt sah ich sie nur noch zwei oder drei mal im Jahr. Ich bin nicht nachtragend. Und letztlich war ich auch nie böse auf sie. Aber ich war sehr verunsichert, wusste nicht mehr wie ich mit ihr umgehen sollte. Also mied ich sie.

Die letzten Jahre ging es ihr gesundheitlich immer schlechter. Als ich mich Anfang 2011 dazu überwand sie in ihrer Stube besuchen zu gehen, wenngleich auch nur für wenige Minuten, war dies für mich ein ganz aufrüttelndes Erlebnis. Sie war mager. Dürr. Eingefallen. Sie sah nicht mehr aus wie meine Oma.

Das allerletzte Mal sah ich sie an Ostern 2011. Wir hatten ein Geschenk für sie dabei und gingen rüber um es ihr zu überreichen. Sie schien sich zu freuen… glaube ich, denke ich… hoffe ich. Sie fragte: „Was willst du dafür haben?“ Ich verstand erst nicht. Sie wiederholte. Ich verstand immer noch nicht. Was meinte sie damit? Diese Situation war furchtbar. Es sagte mir so viel und stimmte mich mehr als traurig. Ihre letzten Jahre war sie Geldgeber für einen Teil der Verwandtschaft. Weshalb also sollte sie von mir etwas anderes erwarten? Ich ließ mein Geschenk bei ihr, lächelte verlegen und ging irgendwann. Einige Monate später war ich zu Besuch bei meinen Eltern, aber ich traute mich nicht mehr zu ihr. Hätte ich es bloß getan…

Am Telefon sagten meine Eltern, dass es ihr immer schlechter ginge. Zweimal schon sei sie diese Woche gefallen und wolle auch nicht mehr so recht aus dem Bett aufstehen. Sie hatte die Katzen meiner Eltern des Öfteren bei sich. Als mein Vater den Kater zu ihr ließ, schickte sie ihren Sohn sofort weg und wollte wohl mit dem Kater alleine sein. Sie lag mit ihm im Bett. Die Situation erschien meinem Vater ungewöhnlich. Ich könnte mir vorstellen, dass sie bereits spürte was geschehen würde.

Einen Tag nach Henriks Geburtstag fand mein Vater sie nicht ansprechbar im Bett. Die Beine baumelten draußen und waren eiskalt. Sie schnappte noch nach Luft. Schlaganfall. Sie kam ins Krankenhaus. Mein Vater bereitete mich am Telefon darauf vor, dass sie nie wieder heimkehren wird. Mein erster Gedanke war mein Vater. Ich machte mir den ganzen Tag Sorgen um ihn und trauerte weil er trauerte. Nur dass ich um ihn trauerte und nicht um sie. Mir geht ihr Schicksal sehr nahe, aber mein Vater lebt und ich halte es nicht aus, wenn es ihm schlecht geht. Dauernd dachte ich an ihn, an meine Mutter und an meinen Bruder. Ich hoffte, dass sie nicht mehr lange zu leiden hatte. Niemand wollte sie monatelang ohne Bewusstsein an Maschinen hängen sehen. Und dann kam noch am selben Tag der Anruf aus dem Krankenhaus. Sie verstarb.

Es war der 03.09.2011.

Kommentare 8

  1. oh mein gott ist das traurig. du hast es geschaft, ich hab pippi in den augen. aber ich hab auch solche erfahrungen gemacht. meine oma kam ins altersheim und als ich sie da besuchte, erkannte ich sie nicht wieder. es war wie ein fremder mensch, für meinen vater war das sehr schrecklich

  2. Liebe Erbse,
    ich möchte dir mein herzlichstes Beileid ausdrücken. Ich meine sehr gut nachvollziehen zu können wie es dir momentan geht. Als meine Oma gestorben ist war ich sehr traurig, aber das schlimmste war zu sehen, wie meine Mutter geweint hat. Wenn ich daran denke könnte ich heute noch losheulen.
    Ich wünsche dir und deiner Familie viel Kraft für die nächste Zeit.
    Viele Grüße
    Suja

  3. Liebe Erbse,
    das tut mir sehr leid! Ich selber habe in letzter Zeit sehr viel Angst davor, meine Oma zu verlieren. Da sie so weit weg lebt, sehe ich sie viel zu selten. Vorgestern, auf dem Weg in die Eifel habe ich sie für eine kurze halbe Stunde gesehen und als ich ihr beim Abschied sagte, daß wir uns ja im Oktober wiedersehen werden, meinte sie: „ich bin da immer etwas vorsichtig. Es kann viel passieren bis dahin!“ Dabei habe ich sowieso jedesmal Angst davor, daß ich sie das letzte Mal sehen könnte. Sie ist eine so tolle Oma und Uroma. Ich kann gut verstehen, wie du dich fühlst. Aber auch, wenn ihr euch die letzte Zeit nicht mehr oft gesehen habt und euch fremd geworden seid, wird sie sich genau wie du an eure gemeinsame schöne Zeit erinnert haben! Du mußt kein schlechtes Gewissen haben, weil du nicht mehr bei ihr warst, schließlich kann man ja nicht immer davon ausgehen, daß es das letzte Mal sein wird und deshalb alles Geschehene vergessen. Wichtig ist am Ende doch nur, daß Menschen an einen denken und man in den Herzen bleibt und nicht vergessen wird. Und das tust du und teilst einen Teil davon sogar mit uns.
    Alles Liebe und viel Kraft, Sarah

  4. Hallo Erbse !
    Dein Beitrag hat mich sehr ergriffen.Meine Oma ist schon sehr früh gestorben.Es muß so 1953-54 gewesen sein. Schlaganfall .halbseitig
    gelähmt.Es ist immer so eine Gradwanderung wenn ich an Oma denke.
    Ich kenne Sie als liebe Oma.Meine Mutter 91,5 Jahre versuchte noch
    vergangene Woche Sie als ungerecht und etwas böse zu erklären.
    Wenn ich an meine frühe Kindheit denke dann war Oma immer da.
    Sie war wohl meine Bezugsperson.Mein Vater zwischen Front und Heimaturlaub ja auch da erinnere ich mich.Mutter— alle Erinnerungen
    die ich so habe sind nicht immer gut.Auch ich möchte diesen Winter gegen
    Das Vergessen schreiben.Vielleicht verstehe ich meine Mutter dann besser.
    Auch ich bin Mutter und Oma.Ich habe viele Fehler gemacht die ich von
    meiner Mutter vielleicht übernommen habe.Vielleich hat auch meine Mutter
    diese Fehler von Ihrer Mutter übernommen.
    Das Leben ist ein Kreis.Erbse ich schreibe später noch über dieses Thema
    Ich muß noch nachdenken, meine eigenen Erinnerungen ordnen.

  5. Ich lese den Eintrag jetzt nach dem über die Beerdigung. Ich kann dich sehr gut nachvollziehen. Mein Opa starb innerhalb von sechs Monaten an Rückenmarkkrebs, meine Oma mütterlicherseits nach jahrelangem Krebsleiden, mein Onkel war Alkoholiker und starb beim Entzug. Auf meiner ersten Beerdigung, es war die meines Opas, war ich gerade mal 15 Jahre alt. Ich verstand nichts. Und ich weinte, weil ich meinen Vater weinen sah, der das sonst nie tut. Ich hatte keine besondere Beziehung zu meinem Opa, ich hatte sogar immer das Gefühl ich sei im lästig. Aber die ganze Szenerie hat mich so fertiggemacht, dass ich einen Nervenzusammenbruch hatte. Besonders Leid tat mir meine Oma, die innerhalb von zwei Jahren ihren Mann und einen ihrer Söhne verloren hat. Ich rede mir heute noch ein, dass ich für sie stark sein muss. Bei der Beerdigung meines Onkels hielt ich ihre Hand, sie hatte inzwischen zwei Schlaganfälle hinter sich, und unterdrückte jede Träne. Innerlich hätte ich schreien können. Bei jeder Beerdigung hatte ich das Gefühl da allein durch zu müssen. Irgendwie saß ich entweder immer eine Reihe hinter meinen Eltern, ging hinter ihnen zum Grab oder musste für meine Oma da sein. Ich beneidete meine Eltern, dass sie sich gegenseitig hatten und war innen drin tief traurig. Deswegen bin ich immer froh, wenn ich für jemanden da sein kann. Ich weiß wie das ist, wenn niemand deine Hand nimmt.

  6. Liebe Erbse,

    mein herzliches Beileid, ich kann deine Situation sehr gut nachvollziehen. Mein Opa verstarb einen Tag vor deiner Oma.
    Es ist schrecklich die Eltern leiden zu sehen, wir standen am Krankenbett meines Opas und ich konnte es kaum mit ansehen wie meine Oma und meine Mutter ihn ansahen.
    Meine Oma ist äußerlich eine starke Frau, aber als wir sie nachts aufweckten um ihr zu sagen dass ihr Mann gestorben ist wurde ihr ganz schlecht und sie musste sich wieder hinlegen. So habe ich meine Oma zuvor noch nie gesehn.

    Ich war dieses Jahr auf zu vielen Beerdigungen und ich hasse es mir vorzustellen, dass ein ganzer Mensch in dieser kleinen Büchse steckt!

    Ich wünsche dir ganz viel Kraft, Erbse!

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