Mit mulmigem Gefühl stieg ich ins Auto um mit meiner Familie zum Friedwald zu fahren. Aus mulmig wurde schnell starke Aufregung, umso näher wir dem Ziel kamen. Gegessen hatte ich schon länger nichts mehr. Kein Bissen bekam ich hinunter. Mir war kotzübel.
Eine selbstbewusste Frau nahm mich an die Hand. Die nächsten Stunden würde sie mich nicht mehr loslassen. Sie flüsterte: „Du musst jetzt nicht stark sein. Das ist der Moment indem dich Niemand für Angst, für Traurigkeit und für deine Tränen als Weichling abstempeln wird. Sei ganz du selbst. Schäme dich nicht für dich.“ – Kaum war der Satz in meinem Kopf beendet, startete das Gefühlskarussel. Der Pfarrer stieß zu uns, der kleine Kreis der Trauergemeinde ging in Zweierreihen zum Andachtsplatz mitten im Wald. Diese wenigen Meter bergauf, kamen mir vor wie Stunden. Ich griff nach Henriks Hand zu meiner linken und spürte die Hand der Frau zu meiner rechten. Ihre Hand war wohlig warm, was sich schnell auf meinen Körper übertrug. Mir wurde heiß. Mir wurde schwindelig. Ich wusste weshalb wir alle hier waren, aber ich verstand es nicht. Ich verstand es einfach nicht. Ich konnte es nicht begreifen.
Irgendwann fand ich mich auf einer Holzbank sitzen. Mein Blick zuerst auf Menschen gerichtet, für die ich in diesem Moment nur Zorn übrig hatte. Es verwunderte mich, wie schnell die einzelnen Gefühle in mir wechselten. Wie wankelmütig ich plötzlich wurde. Die Frau presste mich in den Sitz und hielt mich ganz fest. Ich weinte. Der Zorn ließ zuerst nicht nach. In Gedanken sagte ich der Frau, dass ich kurz davor wäre zu den beiden Menschen hinüber zu gehen und ihnen das Bösartigste zu sagen, was jemals über meine Lippen gekommen wäre. Sie drückte mich fester. Tränen liefen über mein Gesicht. Die Wut wurde schlagartig unterbrochen, als der Pfarrer mit der Andacht begann.
Der Schwindel kam wieder. Ich dachte an meine Oma. Sie würde nie mehr wieder kommen, ich würde sie nie mehr wieder sehen. Mein Blick wanderte zu meinem Papa, dann zu meiner Mutter, zu meinem Bruder und zu Henrik. Ich hatte Angst sie zu verlieren. Die Tränen liefen erneut. Ich spürte so intensiv wie nie zuvor, wie vergänglich das Leben ist. Wie plötzlich die Liebe vom Tod zertreten wird. Wie sich ein Mensch soeben noch zeitungslesend auf dem Sofa befindet um einen Augenschlag später verbrannt und ohne Leben in einer Urne zu sein. Sein. Aber er ist gar nicht mehr. Ich verzweifelte. Die christlichen Gebete und die knappen Worte über das Leben meiner Oma liefen nur so an mir vorbei. Ich bekam kein Wort heraus. Sang nicht. Sprach nicht mit. Mein Kopf sagte mir: „Steh auf. Geh!“ – Aber ich ging nicht. Die Frau hielt mich ein weiteres Mal fest und flüsterte in mein Ohr: „Flüchte nicht. Die Tränen die du weinst werden zum Meer und das Meer bedeutet Leben. Du wirst lebendig sein. Die Tränen werden dir helfen. Und es wird dir helfen, dass du sie heute offen zeigst.“
Der Pfarrer beendete das Gebet. Er sprach vom Märchen des kleinen Prinzen. Er sprach von der Verantwortung und Schuld. Viele passende Metaphern kamen ihm über die Lippen und die riesigen Zaunpfähle die er in Richtung der mich zornig-machenden Menschen winkte, hätten nicht treffender sein können. Es war eine kleine Genugtuung den Worten zu lauschen, wenngleich es meinen Zorn auch nicht versiegen ließ.
„Die Zeit, die du für deine Rose verloren hast, sie macht deine Rose so wichtig.“
„Die Zeit, die ich für meine Rose verloren habe …“, sagte der kleine Prinz, um es sich zu merken.
„Die Menschen haben diese Wahrheit vergessen“, sagte der Fuchs. „Aber du darfst sie nicht vergessen. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast. Du bist für deine Rose verantwortlich …“
„Ich bin für meine Rose verantwortlich …“, wiederholte der kleine Prinz, um es sich zu merken. Kapitel XXI Der kleine Prinz – Antoine de Saint Exupéry
Die Frau führte mich hinter meinen Eltern durch den Wald zum Familienbaum, unter dem die Urne vergraben werden sollte. Unter dem meine Oma vergraben werden sollte. Nun war es um mich geschehen. Meine Beine verhielten sich wie wackelige Zahnstocher, die unter meiner Trauer zusammenzubrechen drohten. „Halte mich!“ – Die Frau fing mich auf, ich stürzte nicht. Die Worte des Pfarrers rasten an mir vorbei. Ich hoffte es würde schnell gehen. Irgendwann verließ er den Platz tatsächlich. Unsere Familie und die Trauernden waren unter sich. Zusammen mit meinem Bruder, Henrik und der Frau ging ich zum offenen Grab. Meine Sicht war verschwommen. Die Tränen ließen keinen klaren Blick mehr zu. Jetzt wurde mir das erste Mal ganz deutlich was überhaupt geschehen war. „Meine Oma ist tot.“ – Es schoß mir durch die Glieder. Meine Oma ist tot. Meine Oma ist tot. Die Frau nahm meine Hand, führte sie zum Korb in dem ich Stunden zuvor mit meiner Mutter Blütenblätter zusammentrug. Unsere Hände wurden zu einer einzigen, wir griffen,… ich griff nach den Blüten und ließ sie behutsam in das offene Grab gleiten. Ich drehte mich um, ging schnellen Schrittes in die Reihen meiner Familie und versank für einen Moment mein Gesicht in die starken Arme meines Papas. Mein Bruder reichte mir ein Taschentuch. Wir gehören zusammen, dachte ich. Meine Mutter sprach ein liebevolles „Danke“ in meine Richtung. Es gab nie einen Moment wo ich meiner Familie näher war.
verdammt, nun wars geschehen. schon in deinem letzten beitrag spiegelte sich der tod deiner oma wieder. ich habe einen solchen schrecken davor, ich möchte damit garnicht umgehen können.
Es tut mir so leid für dich…
Ich wollte dich nur wissen lassen: bei mir war es genau die gleiche Mischung aus Gefühlen. Vor allem der Zorn.
Die Wut auf diese Menschen, die ich kaum kannte, und die sich einen Dreck um die Frau geschert haben, um die sie jetzt angeblich trauern.
Wut, weil sie nicht nur während ihrer Lebzeit alles falsch gemacht haben, sondern auch jetzt noch. Weil sie unbedingt die Planung der Beerdigung übernehmen wollten.
Meine Oma hat mir immer erzählt, dass für sie nur eine Einäscherung in Frage kommen würde, weil sie die Vorstellung in einer dunklen Holzkiste zu vergammeln nicht erträgt.
Als ich in die Kapelle kam, und dort ein aufgebahrter Sarg lag, zerbrach in mir alles. Ich weiß nicht was überwogen hat: die Wut- oder die Trauertränen.
Es tut mir so leid für dich!
Ich selbst musste diesen Gang nun auch schon dreimal gehen und es immer wieder schmerzhaft. Wie gut, dass du deine Familie und deinen Freund hast, um das gemeinsam durchzustehen!
Alles Gute!
Es kommen einem selbst so viele Gefühle wieder hoch, die ich schon längst vergessen glaubte. Ich las diesen Brief mit feuchten Augen. Der Inhalt fühlt sich so real an, obwohl lediglich Worte ihn wiedergeben. Doch die Worte entstammen deiner Seele, deiner Trauer. Ich fühle mit dir, und du hast mein ganzes Mitgefühl.
Möge der Schmerz sich schnell lindern, aber die Erinnerung an deine Oma auf ewig währen.
Das tut mir Leid! 🙁
Ich weiß noch, dass ich damals furchtbar wütend auf den Pfarrer war. Dieses oberflächliche Geschwafel, dass meiner Meinung nach so gar nichts mit meiner Oma zu tun hatte. Und ich weiß auch noch, dass ich die ganze Angelegenheit nicht gerafft habe, bis ich vorm Grab stand und alles so endgültig und klar wurde. Verdammt, jetzt fang ich gleich auch wieder an zu heulen. Ich kann die Situation auf alle Fälle gut nachempfinden und wünsche dir und deiner Familie viel Kraft!
Mein herzliches Beileid. Ich musste auch schon drei Familienmitglieder beerdigen und immer für andere stark sein, weil ich dachte sie so zu stärken, eben wenn ich nicht hilflos in Tränen ausbreche. Ich hoffe deine Oma hatte eine ihr angemessene Beerdigung. Aber was du beschreibst hört sich ganz danach an.
Ich persönlich habe keine Beziehung zu Friedhöfen oder Grabstätten. Sie sind für mich kein Anlaufpunkt für Erinnerungen. Ich erinnere mich lieber anhand von Fotos und schönen Momenten, in denen die geliebte Person immer weiterlebt. Das sagt sich zwar jetzt so leicht, wenn man nicht in der Situation ist, aber für mich ist es angemessener.
Auch ich habe „Verwandte“, denen ich nur Wut entgegenbringen würde. Ich habe regelrecht Angst vor dem Tag, an dem meine Oma von uns geht und ich diese Menschen, die sich fünf Jahre lang nicht haben bei ihr im Pfelegeheim blicken lassen (trotz 10 Min. Fußweg), bei der Beerdigung sehen muss, wie sie Trauer heucheln. Ich kann dich sehr gut nachvollziehen. Es ist schön, dass du Menschen hast, die dir beistehen.
Ich hab meine Oma, meine Tante und auch eine gute Freundin verloren und war noch auf weiteren Beerdigungen. Menschen zu verlieren, die einer nahestehen, ist extrem. Extrem schwierig und schmerzhaft. Ich hatte immer relativ lange daran zu knabbern – ausser bei meiner Oma. Da war es für mich okay, nur meinen Vater trauern zusehen, hat so weh getan.
Ich fühle mit dir und umarme dich mal virtuell.
Alles Liebe!
„Hin und wieder lache ich auch ganz gerne. 😉 Ehrlich.“
In der Hoffnung, daß das irgendwann/bald mal wieder
der Fall sein wird…
Alles Liebe!
W
Leider kenne ich deine Gefühle nur zu gut… Vor 3 Wochen starb meine Tante, der 3. Todesfall innerhalb von nur einem Jahr…. Das bittere ist, das vor einer Woche ein Brief eintraf,bei meinem Onkel, das ein passender Spender nun gefunden sei… Bitter… Meine Tante wurde im übrigen auch im Friedwald beerdigt,… ! Hoffe es geht dir bald besser… Mehr kann ich leider gerade nicht dazu sagen, haben viele Gedanken im Kopf… Habe aber auch bald vor wieder etwas auf meinem privaten Blog zu posten…
Alles Liebe…
Ich bin gemeinsam mit dir traurig, wenn ich deine Zeilen lese, denn ich kenne all das gut und wer das einmal tief erlebt hat, trägt es in sich und manchmal zeigt es sich…. Aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass all diese Gefühle der Trauer, Wut, Hass, Angst und diese anderen Dämonen Teil von uns sind, und sie uns ermöglichen, uns lebendig zu fühlen. Das Leben, das nicht im Gegensatz zum Tod steht sondern vielmehr nur miteinander existieren kann. Ich habe mich oft gefragt, um wen ich wirklich weine und ich denke, dass wir selbst es sind um die wir weinen. Das tröstet vielleicht nicht, aber es zeigt Möglichkeiten des Wachstums….
Ich nehme dich in den Arm wenn du magst und lächle dir zu…..virtuell…
Menschen die man gerne hatte vergißt man nie. Irgendwann sind sie immer da.Wenn man dann über Sie reden kann ohne zu weinen —-dann hat man einen großen Schritt nach vorne getan,Aber das kann sehr sehr lange dauern.Manchmal denke ich wenn ich am Grab stehe ,möchte er es eigentlich das ich so traurig bin ? Würde er sagen wenn ich ihm verstehen könnte—Mutter sei nicht traurig ich bin ja da –denn tot ist nur der den man vergißt.Erbse es ist ein langer langer Weg aber Du schaffst es über deine Oma zu reden ohne zu weinen. Tot ist nur der denn man vergißt glaube mir.
… wir haben uns leider lange Zeit ein wirklich queres Bild von uns gemacht. Im Prinzip haben wir in der „Moderne“ eine Meinung zum Naturgesetz erhoben, welches nur in engen Grenzen wirklich gilt. Mittlwerweile kann man es auch wissenschaftlich begreifbar machen. In diesem Sinne, was Deine und Eure Verwandten ausgemacht hat, ist eben nicht „weg“. Es muss auch nicht sinnlos in Zeit erinnert werden. Wir vergessen nämlich gar nichts, wenn wir nicht wir die Irren durch den Alltag jagen und selbst nicht mehr wissen, wo wir gerade sind. Unsere kranken Plasmabildschirme spielen bei diesem Irrsinn leider heftig mit. Nichts, wirklich gar nichts ist dann verschwunden. Jede Begebenheit, jedes Lachen, jedes Weinen, die Hand auf der Schulter … ist unmittelbar da, wenn wir zur Ruhe kommen und erinnern wollen. Wann diese Begebenheiten waren, ist müßig zu überlegen, denn ihre Wirkung ist auch im Jetzt unmittelbar da, klar und deutlich wie ein sauberer Klang, ein Windhauch auf einer Wiese… Wir haben Anfang und Ende „erlernt“, und sie werden heute tradiert im Denken und durch die (ortsansässige) Religion „verwaltet“. Schwer sich davon zu lösen, aber es geht. Und wenn Tränen wirklich geflossen sind (ungemein wichtig!), also die Emotion nicht im Körper und im Kopf immer noch verklemmt alles blockiert, und wenn wir die sonstigen Blockaden unserer Biografie (empathisch mit den Verursachern!) aufgelöst haben, sind alle Erinnerungen verfügbar. Unsere Verwandten verschwinden also nicht, oft sind wir sogar in unseren Eigenschaften noch klar durch 3-4 Vorgenerationen stark beeinflusst (transpersonale bzw. transgenerative Psychologie…). Wenn wir das verstanden und auch „aufgeräumt“ haben, kann man gut empfinden, das offenbar nichts verschwindet, was wir nicht bewusst aufgelöst (emotional verarbeitet) haben. Und Gutes bleibt. Im tradierten Denken: sowohl in der Vergangenheit als auch in der persönlichen Zukunft.
Es ist zwar schon viele Jahre her, dennoch tut es mir leid, dass Du einen geliebten Menschen verloren hast. Das steht uns leider allen bevor und wird uns in diesen Situationen mehr als bewusst. Letztes Jahr hat mein Mann erst seine Mutter durch einen Schlaganfall sehr plötzlich verloren, 4 Monate später dann seinen Stiefvater durch Krebs. Meine Mutter hatte zwischendrin ein Aortenaneurysma und einen gutartigen Tumor diagnostiert bekommen (beides mittlerweile operativ versorgt), Alzheimer Demenz kam dann auch noch hinzu. Alles in Allem für meinen Mann und mich eine schwere Zeit, für ihn natürlich unbeschreiblich schwer, das kann ich wahrscheinlich nicht ansatzweise nachempfinden, was er durchleben musste. Ich war (und bin natürlich) einfach immer für ihn da…Na ja, wie auch immer, man kommt natürlich sehr ins Nachdenken, wie schnell alles vorbei sein kann, dass es jeden jederzeit erwischen kann, dass man froh sein kann, wenn man stirbt und nicht ein Schwerstpflegefall wird usw. Ich habe diese Gedanken zum Glück mittlerweile ganz gut in die hinterste Ecke meines Bewusstseins verbannen können und genieße wieder die Banalität des Alltags 🙂